Den Armen ein Grande Hotel
Elsa weiß nicht, wann sie Geburtstag hat. Auf die Frage, wie alt sie ist, antwortet sie: „Elf“. Das haben ihr ihre Eltern gesagt. Sie lebt in einem Hotel, Zimmer 300. Aber Elsa ist kein Gast. Ihre genaue Adresse steht im Personalausweis ihres Vaters: „Beira, Avenida Afonso de Pavia, Gebäude Nummer 2, dritter Bezirk: Ponta Gêa“. Das ist nicht irgendeine Adresse, Elsa Macata wohnt im Grande Hotel. Das war einmal das größte, luxuriöseste Hotel Mosambiks, des gesamten Kontinents sogar. 12.000 Quadratmeter, 122 Zimmer mit Blick auf den Indischen Ozean. Früher, in den 50ern, nannten es die Menschen hier den „Stolz Afrikas“.
Jetzt steht Elsa mit einem leeren gelben Plastikkanister am Wasserhahn an – wie jeden Morgen. Sie steht zwischen anderen Mädchen und Frauen mitten in einer der versandeten blumlosen Rabatten, die die vierspurige Straße säumen. Die Avenida Afonso de Paiva verbindet die Innenstadt mit dem Meer.
Nicht einmal fünf Autominuten entfernt von hier reihen sich Prachtvillen um Plätze und an Straßen entlang. Frisch getünchte Fassaden wechseln sich mit halb zerfallenen ab. Auf den Bürgersteigen davor verkaufen Straßenhändler Zigaretten, Cola und Fanta in kleinen Glasflaschen, in den Läden gibt es Haushaltswaren und Stoffe, in den Bars Kaffee und portugiesische Sahnepasteten. Auf den Straßen drängen sich Menschen. 440.000 Einwohner hat Beira und manchmal scheint es, als seien alle auf einmal unterwegs.
An den Rabatten, in denen Elsa mit den anderen Frauen und Mädchen wartet, fahren nur noch selten Autos vorbei. Hier will niemand mehr hin. Für die meisten Beirenser endet die Stadt eine Kreuzung vorher, wo die letzten der pastellfarbenen Einfamilienhäuser aus der Kolonialzeit stehen.
Die anderen Mädchen und Frauen reden und lachen. Elsa ist still. Es ist kurz nach sechs, aber die Sonne scheint schon seit fast drei Stunden. Es ist heiß, 31 Grad Celsius. Das Wasser hat die helle Erde unter Elsas nackten Füßen dunkel gefärbt. Sie fühlt sich feucht an. 20 Liter passen in Elsas Kanister. Sie füllt ihn fast bis zum Rand. Ihre Freundin Felizmina hilft, ihn ihr auf den Kopf zu hieven. Er drückt ihre kleinen geflochtenen Zöpfe platt, die sonst wirr in jede Richtung abstehen. Aber ihr schmaler Körper bleibt gerade, als sie die Last heim trägt.
Elsa muss nur die Seiten der breiten Straße wechseln, und sie steht vor ihrem Zuhause: ein monumentales graues Gebilde aus Säulen und Bögen, drei geschwungene Stockwerke hoch. Ein gigantisches Betonwesen, das sich über das Viertel erhebt. Aus einigen Fensteröffnungen wachsen Mangobäume, aus anderen flattern bunte Stoffe – Windeln, Röcke, Hosen. Mehr als tausend Menschen verbirgt es in seinem Inneren – Hausbesetzer. Wie viele genau, weiß niemand. Die meisten seiner Bewohner glauben, dass sie mindestens 3500 sind. Elsa ist eines von 200 Kindern, die in ihm leben.
Der 16. Juli 1955 war ein Samstag. An diesem Abend blieb Francisco Ivo allein zu Haus. Die Eltern des Achtjährigen besuchten die größte Party der Stadt: Die Einweihungsfeier des Grande Hotels. Fotos zeigen lange Tischreihen unter funkelnden Lüstern, weiß eingedeckt. An ihnen sitzen die Gäste, um die 500 müssen es gewesen sein: Männer in Smokings, manche mit Einstecktüchern, andere mit Orden an der Brust. Die Frauen an ihren Seiten tragen glänzende Abendkleider, Perlen und Hüte. Schwarze Kellner in weißen Anzügen servieren ihnen die Speisen. Sie essen Hühnerbraten und Gambas aus dem Indischen Ozean, trinken Rotwein und halten Reden. Es sind wichtige Menschen dort an den Tischen. Die, die auf den Fotos zu sehen sind, sind alle weiß. Unternehmer, Rechtsanwälte und Politiker, die es bis ganz nach oben geschafft haben im faschistischen Portugal und seiner Kolonie Mosambik.
Die Ivos gehörten schon immer zur High Society Beiras. Francisco Ivos Großvater war Bürgermeister, sein Vater Carlos der erste und einzige Architekt der Stadt. Bis der Portugiese Francisco de Castro 1952 nach Beira zog, um das Grande Hotel zu bauen – noch im pompösen Stil des Art Déco – und später den Hauptbahnhof – puristisch und modern. Fast zehn Jahre blieb de Castro in der Kolonie. Für die Familie Ivo wurde er zum Freund. Ivos Sohn Francisco nannte er stets nur „Chico“ – den Kleinen.
Für Freunde heißt Francisco Ivo immer noch Chico, obwohl er inzwischen 63 Jahre und hoch gewachsen ist. Der hagere Mann mit dem lichten weißen Haar fällt auf, wenn er durch Beira geht. Seine Hautfarbe ist selten geworden in der Stadt und in Mosambik. Rund 20 Millionen Einwohner hat das Land. Aber nur um die 600 aller Mosambikaner sind weiß. Nach der Unabhängigkeit 1975 verließen es fast alle der 230.000 Portugiesen. Die Regierung des neuen freien Mosambiks verstaatlichte ihre Häuser, ihre Fabriken. Das Grande Hotel, das früher der portugiesischen Mosambik-Gesellschaft gehörte, ist heute Eigentum der Stadt Beira. Es ist der Slum der Stadt. Hier wohnen die Ärmsten der Armen.
Francisco Ivo erinnert sich, wie seine Eltern am Morgen nach der Eröffnungsparty schwärmten. „Sie waren richtig stolz, dass Beira nun so einen Prachtbau hatte“, sagt er. Er verabredete sich noch am selben Tag mit seinen Freunden am Hotelpool. Sie sprangen vom Dreimeterbrett und aßen Sandwiches unter den Sonnenschirmen der Poolbar. Das Hotel selbst haben die Jungen damals nicht betreten, das trauten sie sich nicht. Aber sie haben von außen ins Foyer gespäht. „Ich war beeindruckt von diesen gewaltigen Bögen, diesen geschwungenen Treppen“, erzählt Ivo.
Elsa, die gerade über die geschwungene Treppe steigt, ist kein bisschen beeindruckt. Die 20 Liter auf ihrem Kopf werden langsam schwer. Sie wohnt im dritten Stock. 84 Stufen liegen vor ihr. Die Hotelgäste früher schritten noch über einen roten Teppich nach oben. Aber den gibt es nicht mehr. Elsa versucht auf keine der toten Kakerlaken zu treten. Als sie einer Urinpfütze ausweicht, schwappt Wasser aus ihrem Kanister. Sie wird nass. „Pass auf“, ruft die Frau, die ihr entgegen kommt. Jetzt lacht Elsa.
Das Hotel schloss nur acht Jahre nach der Einweihungsfeier. 90 Millionen Escudos hatte der Bau gekostet – die Summe wäre heute mehr als 30 Millionen Euro wert. Eigentlich sollte ein Casino im Erdgeschoss ihn finanzieren, doch Portugals Staatschef António de Oliveira Salazar soll die Erlaubnis dafür verweigert haben. Und so blieb nach 1963 nur noch der Swimmingpool geöffnet und einige Konferenzräume für besondere Veranstaltungen. Die Silvesternacht 1980/81 war das letzte Fest im Grande Hotel.
Der Putz der Bögen bröckelt, an manchen Stellen sind ganze Stücke aus der Fassade gebrochen. Die Lücken geben den Blick auf den Abgrund frei. Jedes Jahr stürzen im Hotel zwei Kinder in den Tod, sagen die Bewohner. Die Wände sind grün und schwarz vom Schimmel und vom Rauch der kleinen offenen Holzkohleöfen, auf denen die Frauen das Essen kochen. In den Fenstern im Treppenhaus hängen Spinnweben wie blickdichte Gardinen. Die Menschen, die an ihnen vorbeigehen, werfen lange Schatten. Es riecht nach Moder, Urin, Kot und verbrannter Kohle. Elsa fällt das nicht auf. Das Mädchen wurde hier geboren. Sie hat die älteren Bewohner erzählen gehört, dass das Hotel früher sehr schön gewesen sein muss. Und sie weiß, dass die Menschen in Beira heute sagen, es sei eine Schande für ihre Stadt.
Für Elsa bedeutet das Gebäude Nummer 2 in der Avenida Afonso de Pavia Heimat. Es ist ihre ganze Welt. Als hätte jemand eine Stadt geschrumpft, damit sie zwischen die Hotelmauern passt. Wie in den meisten Städten gibt es auch in Elsas Stadt eine Kirche. Unten, im Erdgeschoss, in einem der ehemaligen Konferenzräume. Sie heißt „Igreija Jesus Cristo e a Solução“, den Namen hat jemand in blau an die Tür gepinselt. Die Moschee – in der Region ist jeder fünfte Einwohner Muslim – ist vor drei Jahren in die Poolbar gezogen. Und das Gericht tagt im Foyer des zweiten Geschosses. Auf der Etage wohnt auch der Richter. João António da Silva, Zimmer 211. Die nächste Verhandlung findet in einer Woche statt. Ein Paar will sich scheiden lassen.
Der Hotelchef heißt auch João, João Gonçalves. Er ist so etwas wie der Bürgermeister des Gebäudes. Er hat João António da Silva zum Richter berufen und vier andere Männer zu „Blockchefs“, wie er sie nennt. Sie sollen in den vier Hotelflügeln für Ordnung sorgen. Geld bekommen sie keines dafür, aber den Respekt der anderen. Das genügt. Einer von ihnen hat ins Treppenhaus einen Zettel gehängt: „Kein Müll auf die Treppe!“ So richtig ernst scheint das niemand zu nehmen. „Aber es ist schon besser als früher“, sagt João Gonçalves.
Beiras Bürgermeister Daviz Simango hat den kleinen rundlichen Mann zum Hotelchef ernannt, weil er Mitglied in der gleichen Partei ist – der MDM, der Demokratischen Bewegung Mosambiks. Vor allem aber, damit die Polizei einen Ansprechpartner hat, wenn sie mal wieder im Hotel nach Kriminellen sucht. Ja, Drogen seien schon ein Problem und auch der Alkohol, sagt Gonçalves leise. Seine Augen weichen dem Gegenüber aus. Es ist ihm unangenehm.
Seit 15 Jahren lebt João Gonçalves jetzt hier. Die ersten Hotelbesetzer kamen in den 80ern, sie flohen vor dem Bürgerkrieg, der 16 Jahre im Busch tobte. Kaum hatten die Kämpfer der FRELIMO die Unabhängigkeit von Portugal erreicht, standen sie ein Jahr später vor einem neuen Feind: den Guerillas der RENAMO – der Partei des mosambikanischen Nationalwiderstands, die von den Südafrikanern, Rhodesiern und den USA finanziert wurde.
Heute sind die Menschen auf der Flucht vor der Armut. Auf dem aktuellen Weltentwicklungsindex der UNO nimmt das Land den fünftletzten Platz ein, die Beirenser Tageszeitung macht in diesen Tagen mit der Schlagzeile auf, dass 350.000 Mosambikaner Hunger leiden. Und jedes zehnte Kind stirbt vor seinem fünften Geburtstag. An Cholera, Typhus, Malaria oder Aids. Hier trage jede dritte Frau im gebärfähigen Alter das Virus in sich, sagen die Ärzte der Hilfsorganisation UNICEF. Sie haben in Beira eine Ambulanz eröffnet.
Die neuen Hotelbewohner haben den Busch verlassen, weil sie hoffen in der zweitgrößten Hafenstadt ihres Landes Arbeit zu finden. Die meisten haben noch nie in einem Gebäude aus Stein gelebt. Sie haben das Hotel erobert wie einen Berg, es besiedelt. Die Zimmer sind ihre Hütten, ihre Häuser. Und so nennen sie sie auch: „Casas“.
Zehn Menschen leben hinter der Tür mit der Nummer 300. Die Macatas, Elsas Familie. Ihre Hütte ist 15 Quadratmeter groß, ein Zimmer mit Balkon. Von dort kann Elsa das Meer sehen. Egal wie heiß es ist, hier weht immer ein kühler Wind. Die Glasscheibe der Balkontür fehlt, die Mutter hat Stoffreste zwischen den Rahmen gespannt. Eine Wand aus Pappkartons teilt den Raum. Davor stehen der Tisch, zwei Stühle und ein zerschlissenes Sofa. Kein Bild hängt darüber, keine Puppe sitzt darauf. Elsa hat kein Spielzeug. Sie überlegt. „Doch, das hier“, sagt sie dann und zieht aus einem rosa Rucksack einen bunten, mit Mickimäusen bedruckten Buchdeckel hervor. Er ist leer. Vorsichtig klappt sie ihn auf. Auf der Innenseite steht noch der Name eines anderen Kindes. Elsa hat ihn im Müll gefunden.
Hinter der Pappwand liegt die Schaumstoffmatratze, auf der Elsa schläft – gemeinsam mit ihren Eltern, ihren zwei kleinen Brüdern und der jüngeren Schwester. Ihre beiden Onkel und die zwei Cousinen schlafen im Kabuff nebenan, auf zwei Bambusmatten, die sie jeden Abend auf den Fliesenboden legen. Hier war früher das Bad. Außer den Fliesen ist nichts von ihm geblieben. Die ersten Besetzer haben aus den Hotelräumen gerissen, was sie verkaufen konnten: das Eisen der beiden Fahrstühle, die Fensterscheiben, die Möbel. An manchen Stellen fehlt auch das Parkett. Einige der Bewohner haben damit ihre Öfen befeuert.
Die Vorgänger der Macatas haben kaum etwas übrig gelassen. Es gibt kein Waschbecken, keine Dusche und keine Toilette. Aber durch die Rohre des Hotels fließt sowieso kein Wasser mehr. Elsa wäscht sich auf dem Balkon. Mit einer kleinen Schüssel schöpft sie das Wasser aus dem Kanister, den sie eben hoch getragen hat und begießt sich. Und mehrmals am Tag hockt sie sich über einen Eimer. Den Inhalt schüttet sie anschließend über die Brüstung. So machen es fast alle hier.
Weil es auch keinen Strom gibt, beginnen die Tage früh im Grande Hotel. Die Menschen leben mit der Sonne. Jeden Morgen gegen sechs weckt Elsas Mutter die Kinder und geht aus dem Haus. Sie hat einen kleinen Verkaufsstand in der Rua Eduardo Mondlane – mitten im ehemaligen Villenviertel. Eigentlich ist es ein Tuch, das sie auf dem sandigen Bürgersteig ausbreitet. Darauf legt sie gesalzene Erdnüsse und Mangos aus dem Hotel. Der Vater ist schon auf der Arbeit. Er ist Wachmann in einer Bank. Beide verdienen im Monat zusammen 2550 Meticais, ungefähr 50 Euro.
Elsa frühstückt nie. Nach dem Wasserholen schickt sie ihre Geschwister spielen und geht zum Verkaufsstand ihrer Mutter. „Helfen“, sagt sie. Eine halbe Stunde dauert der Weg. Aber es ist erst kurz vor acht. Da bleibt noch Zeit für einen Spaziergang durchs Hotel. Ihre Freundin Felizmina begleitet sie.
Im zweiten Stock sitzt João António da Silva vor seiner Tür. Wer den Richter sucht, findet ihn hier – auf seinem Stuhl kippelnd, das Kofferradio am Ohr. „Nachrichten“, erklärt er. Er sagt, er sei 50. Aber sein zahnloses Gesicht sieht greisenhaft aus. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Menschen um ihn herum so jung sind. Alt werden hier wenige. Die offizielle Lebenserwartung der Mosambikaner liegt bei 41 Jahren. Einen Beruf hat João António nie gelernt, die Schule hat er nach der sechsten Klasse abgebrochen. Trotzdem – er schlichtet jeden Streit, sagen die Bewohner. Sie hören auf ihn. João António ist sich seiner Bedeutung bewusst. „Ich weiß alles“, sagt er. Er weiß auch schon, wie sein Urteil über das scheidungswillige Paar nächste Woche lauten wird: „Ihr bleibt zusammen!“
Auf der anderen Seite des Ganges kniet Dina Nore, Zimmer 237, auf dem Boden und haut mit einem Stock auf Holzkohlestücke ein. 200 Meticais hat sie im Supermarkt für den 50 Kilogramm-Sack bezahlt, knapp vier Euro. Die Kohlesplitter packt sie später in kleine Tüten. „Die anderen Bewohner können sie dann für fünf Meticais kaufen“, erklärt sie. So funktionieren in Mosambik die meisten Geschäfte. Dina hat breite Schultern und noch breitere Hüften, um die sie ein buntes Tuch gewickelt hat. Vier Kinder hat sie geboren. Im Hotel kennt die 29-Jährige jeder, weil sie mit einem der Blockchefs verheiratet ist und weil sie die Kulturgruppe leitet. Mit einigen Frauen aus dem Hotel übt sie Volkstänze. „Nur so zum Spaß“, sagt sie.
Elsa und Felizmina haben die Dachterrasse erreicht. Elsa ist gern hier oben. Von hier aus kann sie über ihre Welt hinausblicken. Die Wellen des Ozeans sind milchig braun vom Sand des Pungwe, der an dieser Stelle ins Meer mündet. Drei verrostete Fischereischiffe scheinen im Wasser zu stehen wie an den Horizont geklebt. Später werden sie mit gefüllten Netzen wieder zurück in den Hafen fahren. Beira ist berühmt für seine Garnelen, den Camarão. So berühmt, dass das spanische Unternehmen Pescamar hier eine Niederlassung gegründet hat. Bürgermeister Simango sagt, dass sie eine der größten Einnahmequellen seiner Stadt sei. 300 Menschen arbeiten dort in der Fischfabrik.
Die Fischer am Strand vor dem Hotel haben dagegen nicht einmal Boote, sie werfen ihre Netze ins flache Wasser. Manchmal gehen die Mädchen hinunter zu den Hütten unter den Pinien, in denen die Fischer wohnen. Felizmina sammelt dann Muscheln fürs Mittagessen und Elsa betrachtet die Netze. Ab und an hat sich ein Tintenfisch in ihnen verfangen, oft nur Quallen und kleine durchsichtige Garnelen, kaum größer als Mückenlarven. 40 Meticais kostet eine Hand voll. Die Frauen aus dem Hotel sind gute Kunden. An schlechten Tagen sind sie die einzigen.
Bei Maria dos Santos, Zimmer 103, wird es heute Mittag Reis mit Minischrimps geben. Obwohl ihr Geld langsam knapp wird. „Mein Mann ist Abgeordneter in Sofala“, sagt sie. Bei jedem seiner Besuche gibt er ihr ein paar Meticais. Das Problem ist nur: „Er hat noch eine andere Frau, eine zweite Familie“, erklärt sie. Er war jetzt schon über einen Monat nicht mehr im Hotel. Dabei muss die 46-Jährige Maria für ihren Neffen, ihre Tochter Bia und die Enkel sorgen. Die 20-jährige hat zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern. Das jüngste ist gerade ein Jahr alt. Wo die Väter sind, weiß Bia nicht. Sie hätten nur kurz im Hotel gewohnt, dann seien sie verschwunden.
Elsas Blick wandert jetzt zur halbrunden Hotelauffahrt, an der entlang Frauen ihre Waren verkaufen: Reis, Kekse, Simkarten für Handys, Wein in alten Colaflaschen und Schnaps in Plastikflachmännern. „Tentação“ steht auf den Etiketten – „Versuchung“. Auch im Hotel betreiben einige Bewohnerinnen Verkaufsstände, in jeder Etage einen. Es sind die Läden in Elsas Stadt.
Seit über einer Stunde hockt Victoria Caisto Baut, Zimmer 317, hinter ihrem Stand. Sie hat sich auf die Treppenstufen des Eingangs gesetzt – direkt neben dem bunten Müllhaufen, der an den Betonmauern hochwächst. Hin und wieder huscht eine Ratte vorbei.
Groß ist Victorias Angebot nicht. Auf ihrem Schemel hat sie drei Zwiebeln, zwei grüne Paprikaschoten, ein Glas Bonbons und eine Schachtel Zigaretten arrangiert. Aber die 20-jährige hat den besten Platz aller sieben Hotelhändlerinnen. An ihr muss jeder vorbei. Und fast jeder hält – für einen Plausch oder um noch schnell etwas zu kaufen. Wenn es gut läuft, verdient sie 50 Meticais am Tag, ungefähr einen Euro. Ihr Mann verdient als Laufbote etwas dazu und so reicht es für sie und die beiden Kinder.
Am Portal hinter Victoria lehnt Hotelchef João Gonçalves an einer Säule und beobachtet die Auffahrt. Eine Hündin döst im Sand, neben ihr spielen die beiden Welpen. Weiter hinten stoßen vier Kinder abwechselnd Stangen in einen Trog. „Sie stampfen Reis, sie schälen ihn“, erklärt er. Reis gibt es hier zu jeder Mahlzeit.
Eigentlich ist João Gonçalves Maurer. Aber Arbeit hat er keine. Wie die meisten hier. Er wohnt in keinem Zimmer, sondern in einer der Kammern im Keller, in denen früher Speisen und Weine lagerten. Selbst tagsüber kann er sich dort nur mit Kerzenlicht orientieren. Er, seine Frau, die vier Kinder, zwei Katzen und drei Hühner leben alle im selben Raum. Auch das Baby seiner 17-jährigen Tochter Ngame. Es ist das erste Enkelkind des 45-Jährigen. „Eine Woche ist es alt“, sagt Gonçalves, ganz der stolze Großvater. Wie es heißt? Er zuckt mit den Schultern.
Aus dem Holzverschlag vor dem Hotel dröhnt Rapmusik bis zu Elsa hinauf auf die Dachterrasse. „Das Kino“, sagt sie, fast andächtig. Mit einem Generator betreiben einige Bewohner einen Fernseher. Die Zuschauer sitzen davor auf dem Boden. Abwechselnd laufen afrikanische Musikclips und Telenovelas. Fünf Meticais kostet der Eintritt. Für Elsa unerreichbar. Sie war noch nie im Kino.
Elsa zeigt jetzt auf die andere Seite des Hotels, auf den Fußballplatz. Die beiden Holztore haben die Spieler selbst gebaut und auch die Umkleidekabine aus Palmenwedeln. Elsa interessiert sich nicht für Fußball. Aber ihr Vater versäumt kein Spiel im Grande Hotel.
Gleich nebenan liegt der Pool, in dem Francisco Ivo als Kind geschwommen ist. Er ist leer bis auf das Regenwasser, das sich in ihm sammelt – eine braune Lache, in der Küchenabfälle und Plastikflaschen schwimmen. Manchmal baden Hotelbewohner darin. Das saubere Wasser aus dem Hahn gegenüber des Hotels kostet einen Metical pro 20-Liter-Kanister. Wasserholen ist Frauensache, genau wie die Wäsche. Jeden Morgen wird der Bürgersteig für sie zum Waschbrett. Sie schrubben die Wäsche über die Gehwegplatten bis sie schäumt. Sie waschen ihre wenigen Kleidungsstücke täglich. Denn schon nach wenigen Stunden haftet der Schmutz des Hotels an ihnen wie ein schwarzer Schleier.
Vor zwei Jahren war Francisco Ivo zum letzten Mal hier – beruflich. Wie sein Vater ist auch er Architekt geworden. Für einen potenziellen Investor hat er untersucht, unter welchen Bedingungen das Hotel rentabel wäre. Aus der Sache ist nichts geworden. „Es hat viel zu wenig Zimmer für seine Größe“, sagt Ivo. „Da ist nichts zu machen – selbst, wenn man es umbauen würde.“ Er winkt ab. Es reisen kaum Touristen nach Beira, Mosambik hat schönere Strände, an denen das Meer blau ist. Und Stadtoberhaupt Simango sagt, er wüsste ohnehin nicht, wohin mit den Bewohnern. Also bleibt alles wie es ist.
Die beiden Mädchen auf dem Dach des Hotels sind nicht mehr allein. Ein junger Mann hat sich in die Nähe gesetzt und liest in einem Buch. Ananias Mupheko, Zimmer 313, schreibt morgen eine Klausur. Zum Lernen geht er immer auf die Terrasse. „Hier ist es ruhiger“, sagt er. Der 27-Jährige studiert an der Pädagogischen Hochschule um die Ecke. Später möchte er Biologielehrer werden. Aber noch ernährt ihn der ältere Bruder von seinem Lohn als Schneider in einer Hemdenfabrik. Mit ihm wohnt er im besten Flügel des Hotels in zwei Zimmern mit Bad, die einmal eine Suite waren.
Vom Einbauschrank existiert noch der Kasten. Die beiden Brüder haben ihre Hemden und Hosen hinein gehängt. Im früheren Bad fehlt nur der Spiegel. „Twyfords Duramant“ steht auf dem Waschbecken – der Name des englischen Herstellers, der auch die Queen beliefert. Ananias Mupheko hat den Beckenrand mit Frauenbildern geschmückt. Er hat sie aus Shampoo-Packungen herausgeschnitten. In seiner Wanne stapeln sich Blätter, Hefte und Bücher – „alles fürs Studium“, erklärt er.
Elsa muss jetzt los. Die Mutter wartet. Gegen Mittag werden die beiden heimkehren. Um eins muss Elsa in der städtischen Schule sein. Die Kinder werden dort wie überall in Mosambik schichtweise unterrichtet. Elsa gehört zu den Nachmittagsschülern. Und vor Unterrichtsbeginn muss sie noch essen und ihre Schuluniform anziehen: einen zerknitterten blauen Rock und eine weiße Bluse. Elsa geht in die vierte Klasse. Ihr Lieblingsfach ist Mathematik. Nach dem Unterricht wird sie wieder zum Laden der Mutter gehen und bis zum Abend bleiben.
Jeder Tag im Grande Hotel ähnelt dem nächsten. Aber sonntags ist alles anders: Die Hotelflure sind erfüllt von rhythmischen Gesängen – in der Kirche feiern sie Gottesdienst. Kinder spielen in den Gängen, manche ziehen kleine Autos hinter sich her. Leere Tetrapacks an einer Schnur. Zwei Stöckchen dienen als Achsen, vier Schraubdeckel als Räder.
Maria dos Santos denkt heute nicht an ihren treulosen Ehemann und nur ein bisschen an sein Geld. Ihre Augen leuchten, an ihrer Stirn hängen Schweißperlen, ihre Stimme ist heiser. Sie war gerade in der Kirche. Gemeinsam mit ungefähr 40 anderen Bewohnern. Sie sind mit emporgereckten Armen von den Holzbänken gesprungen und haben dem Herrn ihre Gebete entgegen geschrien. Maria hat sich bei ihm bedankt: „Für mein Leben, es ist schön“, sie kann es nur noch krächzen.
Dina Nore ist mit ihrer Kulturgruppe ins Fischerviertel gegangen. Jetzt steht sie zwischen 25 anderen Frauen, singt auf Macua – ihrer Muttersprache. Drei Männer trommeln dazu, einige Frauen blasen Trillerpfeifen, zwei andere drehen ein Seil. Dina hüpft drüber, anmutig tanzend. Sie sieht plötzlich leicht aus. Und glücklich.
Dinas Mann Carlos, der sonst als Nachtwächter bei einem Rechtsanwalt arbeitet, hat heute frei. Er ist zum Hotelpool gegangen. Hinter der alten Poolbar liegt sein Schatz: ein riesiger Quader aus Backsteinen. „1600 Stück“, sagt Carlos Nore. „Bald reicht es.“ Der 41-Jährige will weg. Seit sechs Jahren sparen die Nores schon auf eine Steinhütte. Aber die kostet mindestens 100.000 Meticais, sagt er. Die Zimmer im Hotel sind billiger. Wer für immer geht, verkauft seins. Die Preise liegen mittlerweile zwischen 10- und 15.000 Meticais – zwischen 200 und 300 Euro.
Student Ananias Mupheko empfängt heute Besuch. Drei Kommilitonen. Sie trinken Wein und reden über Frauen. Ananias hätte gern eine. Aber erst will er das Studium beenden. „Ich könnte ihr ja noch nichts bieten“, erklärt er.
Der Platz vor dem Hoteleingang, an dem sonst Victoria Caisto Baut sitzt, ist heute leer. Die junge Händlerin hat ihren Mann mit den Kindern zum Friseur geschickt. So hat sie Zeit, ihr Haus zu fegen. Es ist sehr sauber hier. Selbst der Geruch, der das ganze Hotel durchzieht, dringt nicht durch ihre Zimmertür. Draußen, auf dem Balkon, duftet es nach frischem Essen. Ein grüner Brei köchelt auf dem kleinen Eisenofen. „Heute gibt`s was Besonderes“, ruft sie von drinnen. Reis mit gehackten Maniokblättern. Später wird sie ihre frisch gewaschene rosa Bluse anziehen und das abgetragene Tuch um ihre Hüften gegen einen Rock tauschen. Sie will mit Freundinnen ins Kino gehen. Da will sie schön sein. „Hoffentlich zeigen sie eine brasilianische Telenovela“, sagt sie. Die portugiesischen findet sie langweilig.
Elsas Vater hat sich zu Hotelchef João Gonçalves an den Fußballplatz gestellt. Die jungen Männer auf dem Feld haben schon ihre blauen Trikots übergezogen. Um drei beginnt das Spiel: Grande Hotel gegen Munhava, einem Viertel auf der anderen Seite des Flusses.
Elsas Schule ist heute geschlossen. Das Mädchen ist morgens nach dem Wasserholen zu ihrer Mutter in die Rua Eduardo Mondlane gegangen. Helfen. Wie jeden Tag.“

erschienen 2011 in der Zeitschrift „Mare“