Die Gründe der Gründer
Als Gerhard Winkler nächtelang wach neben seiner Frau im Bett lag und über seine Idee nachsann, die Idee von einem mitwachsenden Schülerstuhl, den er selber herstellen würde, hatte er auch ein Jobangebot als Geschäftsführer vorliegen. Er hatte also die Wahl zwischen der Sicherheit eines gut bezahlten Arbeitnehmerdaseins und dem Risiko eines Arbeitgebers. Gegen die statistische Wahrscheinlichkeit entschied er sich für das Risiko. Er nahm einen Kredit auf, kaufte eine alte Fabrik, baute die aus, produzierte selbst.

Heute, 15 Jahre später, weiß er, dass er richtig entschieden hat. Heute sitzen Schulkinder in Luxemburg, Belgien, in Dubai und Deutschland auf seinen Möbeln. Sein Unternehmen expandiert, hat 2009 neun Millionen Euro Umsatz gemacht. Gerhard Winkler, 62 Jahre, ist der Besitzer der Schulmöbelfabrik „project“ in Eisleben, der Lutherstadt in Sachsen-Anhalt.
Sein Büro liegt im obersten Stockwerk. Über eine Galerie, die innen um die Fabrik führt, durch das Vorzimmer mit der Sekretärin gelangt er dorthin. Es ist ein großer Raum mit eleganten Holzmöbeln. „Eigene Produktion“, sagt er. Vielleicht ist der Stolz, der sich einstellt, wenn einer es geschafft hat, schon ein Teil der Antwort auf eine wichtige Frage: Wieso gründen Menschen Firmen und werden Unternehmer? Von der Antwort hängt die Zukunft ab, die Zukunft der
Menschen, die Zukunft der deutschen Wirtschaft, die Zukunft Deutschlands. Neue Firmen mit neuen Ideen sind wichtig für die wirtschaftliche Erneuerung eines Landes. Und dessen Wohl und Wohlstand hängen wesentlich von denen ab, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. In der Krise vielleicht mehr als je zuvor.
Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr Unternehmen gegründet als dichtgemacht haben oder pleitegegangen sind. Das ist ermutigend, aber das bedeutet noch nicht, dass Deutschland plötzlich den Unternehmergeist neu entdeckt. Die Wirklichkeit ist etwas komplizierter. Nicht jeder, der
eine Firma gründet, ist wie Gerhard Winkler. Für Winkler war vor 15 Jahren vor allem eins entscheidend: dass er keine Angst vorm Scheitern hatte. Er sagt:
„Dann hätte ich es nicht gemacht.“ Dazu kam der Reiz, Dinge selbst zu gestalten. Winkler kannte aus seiner langjährigen Berufstätigkeit als Dreher und später als Ingenieur einige Firmenchefs persönlich. Da habe er gedacht: „Was die können, das kann ich auch.“

So denkt nur jeder Dritte in Deutschland. Im aktuellen „Global Entrepreneurship Monitor“, einer beispiellos breit angelegten internationalen Studie, die in Deutschland die Bundesagentur für Arbeit herausgibt, werden die Gründerquoten von 43 Ländern verglichen. Vorne stehen die USA mit rund neun Prozent,
Südkorea, Island. Deutschland dagegen kommt mit nicht einmal vier Prozent auf den viertletzten Platz. Warum ist das so? Glaubt man Gründungsforscher Alexander Kritikos vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, muss ein Unternehmer vor allem eines können: Entscheidungen
treffen. „Aber das lernen die Menschen ja nicht in der Schule.“ In der Regel jedenfalls nicht.

Wenige Kilometer vom Winkler‘schen Unternehmen entfernt sitzt Philipp Müller in einem Sandsteinbau aus den 50er-Jahren im Computerraum seiner Berufsschule. Auf einem Stuhl von Winkler, allerdings auf einem einfacheren Modell, Typ „Modern Learning“. Der 19-Jährige, Brille, Schlabberpulli, Dreadlocks, lässt sich zum Gestaltungstechnischen Assistenten ausbilden. Gerade malt er mit einem Mitschüler einen lebensgroßen Mann auf ein Plakat.
Kreativunterricht. Das, was sich Gründungsforscher Kritikos für die deutschen Schulen wünscht, praktizieren die Eislebener bereits. Philipp Müller arbeitet mit 14 anderen Auszubildenden in einer Schülerfirma. Sie bekleben Autos mit Werbung, drucken Einladungskarten und T-Shirts. Sie erledigen die Buchhaltung selbst und die Geschäftsführung. Zwar stehen sie gerade mit zwölf Euro in den Miesen, aber in Kürze hoffen die Jugendlichen auf einen Gewinn. Auf dem Gymnasium, auf das Philipp vorher ging, hätten sie fast nichts über Unternehmer gelernt, sagt er. Die Lehrer hätten ihnen nur die verschiedenen Firmentypen
beigebracht und über den Arbeitskampf gesprochen.

Damit fiel der deutsche Unterrichtsstoff auch unangenehm auf, als 2008 eine europäische Vergleichsstudie herauskam. Hierzulande werde akademisiert und theoretisiert, in anderen Ländern würden dagegen Unternehmertugenden gelehrt und Praktisches. Das hätte auch Philipp Müller gerne erfahren. Er erinnert
sich dagegen aus dem Geschichtsunterricht noch an James Watt und die Industrialisierung. Daher rühre Kritikern zufolge auch heute noch das Unternehmerbild, das nicht eben sympathische, das in Deutschland vorherrsche. 3,5 Millionen deutsche Unternehmer gibt es. Nach einer Studie des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung traut denen jeder zweite Bundesbürger Fleiß und Kraft zu. Rund 40 Prozent halten die Unternehmer aber auch für rücksichtslos, verschlagen, raffgierig und arbeitssüchtig. Besonders Frauen verbinden demnach mit Unternehmertum nur geringes gesellschaftliches Ansehen. Der Unternehmer – auf ewig verhaftet im Bildnis des zigarrerauchenden, ausbeuterischen Eigners einer großen Fabrik.

Aber heute müsse man, sagt Kritikos, nicht mehr in eine Fabrik gehen, um Unternehmer kennenzulernen, Deutschland sei eine Dienstleistungsgesellschaft und rund 2,4 Millionen deutsche Firmen – also mehr als die Hälfte aller existierenden – gehörten Einzelunternehmern. Gründer sind wichtig. Sie schaffen Arbeitsplätze oder tauchen zumindest selbst nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auf. Ohne Unternehmer keine Produkte, keine Konsumgüter, kein Wohlstand. Seit einiger Zeit werden sie von immer mehr Politikern „Entrepreneure“ genannt, und die Verleihung des Gründerpreises der Bundesrepublik, der
2009 an den Teehändler und Berliner Wirtschaftsprofessor Günter Faltin ging, wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen. 1998 hat Winkler den gleichen Preis erhalten. Kameras waren ihm damals auch aufgefallen, aber dass die Veranstaltung im Fernsehen gelaufen wäre, daran kann sich Winkler nicht erinnern.An diesem dunklen Tag sitzt er seit halb acht in seinem
Büro, bearbeitet E-Mails, telefoniert. Bis um zehn will er
durch die große Stahlproduktionshalle und die kleinere
Tischlereihalle dahinter gegangen sein. Mit den Leuten reden.
Gegen elf hat er ein Bewerbungsgespräch. „Wir suchen
jemanden für den Vertrieb in Bayern und Hessen.“ Vor 19
Uhr verlässt er seine Fabrik selten.
Das Unternehmerdasein sei ja mit einer ungeheuren
Verantwortung verbunden. Jedes Mal, wenn es zwei, drei
Wochen lang nicht so gut laufe, sagt Winkler, werde ihm bewusst,
dass von ihm Existenzen abhängen. 84 sind es jetzt.
Als er anfing, waren seine Familie und 26 frühere Kollegen
dabei, die versprochen hatten, in seinem Unternehmen zu
arbeiten. „Alles Fachleute, ohne sie wäre es nicht gegangen“,
sagt Winkler. Die meisten von damals sind immer noch da.
Auch sein jüngerer Bruder. Der ist stolz auf den Erfolg des
älteren.
Trotzdem windet Herbert Winkler sich, als er die Frage
hört: Hat der Bruder sich verändert, seit er Unternehmer
geworden ist? „Also wirklich, ich kann nichts Schlechtes sagen“,
sagt er schließlich. Als hätte jemand etwas Schlechtes
hören wollen.
Gerhard Winkler fährt einen Audi A6 Avant. Die ersten
Jahre nach der Gründung seiner Firma hat er um die 5000
D-Mark verdient. Wie viel er jetzt verdient, verrät er nicht.
Aber er hält es für angemessen, wenn das Geschäftsführergehalt
fünf- bis zehnmal so hoch ist wie das der Mitarbeiter.
Winkler wohnt mit seiner Frau in einem Haus etwa 20
Autominuten von seinem Arbeitsplatz entfernt. Wenn er
nicht gerade in einem Geschäftsessen sitzt, isst er Stullen
zu Mittag. In seiner Freizeit wandert er und züchtet im Gartenteich
Koikarpfen.
Gegen 14 Uhr eilt Winkler mit mehreren Listen ins Besprechungszimmer.
Mit seinem Technikleiter und dessen
Mitarbeiter geht er den neuen Katalog durch. Möbelstück
für Möbelstück. Der Technikleiter will etwas über einen
Stuhl sagen. Winkler unterbricht ihn – ruhig, aber sehr bestimmt.
„Das haben wir schon besprochen, darüber müssen
wir nicht mehr reden.“ Der Technikleiter wird still. Nächstes
Thema. Die beiden Techniker sollten einen Laptop-Arbeitsplatz
entwickeln, eigentlich sollte der schon im neuen
Katalog sein. Jetzt wird die Zeit knapp. „Schafft ihr das?“
fragt Winkler.
Er duzt die beiden, sie siezen ihn. Als Winkler nach
der Besprechung von den Erfolgen seines Unternehmens
spricht, spricht er in der Wir-Form. Wenn er manchmal
sein Werk von außen, von der Stadt her sehe, sagt Winkler,
dann sei er schon stolz. Er stockt und schiebt schnell nach:
„Aber nicht im Sinne von: Das ist alles meins.“
Aber es ist doch alles seins. Und warum nicht darauf
stolz sein? Gegründet in einer Zeit der Gründungsfreude, in
den 1990er-Jahren, als die IT-Branche mit ihren ungezählDotcoms Flügel bekam, die dann genauso schnell verglühten.
Aber die Schulmöbel aus Eisleben gibt es immer
noch. Für die jetzige Krisenzeit erwarteten die Experten
eine höhere Gründerquote. Noch sinken zwar die Arbeitslosenzahlen,
bereinigt.
Doch keiner weiß, wie lange das noch so bleibt. Immer
öfter werden nun Menschen zu Gründern, denen die Wirtschaftsflaute
die Arbeitsplätze genommen hat. Schon in den
vergangenen Jahren war existenzielle Not einer der wichtigsten
Gründe für Deutsche, Unternehmer zu werden. Die
Not scheint die gute Geschäftsidee zu ersetzen.
Allein in den ersten sechs Monaten 2009 wagten bundesweit
rund 12.000 Arbeitslosengeldempfänger den
Schritt in die Selbstständigkeit, meldete die Bundesagentur
für Arbeit. Auf einen sogenannten Notgründer kommen in
Deutschland nicht einmal drei Gründer mit einer Geschäftsidee
– nur in Südkorea und Griechenland ist ihr Anteil
noch niedriger. Und so verschwindet jede zweite deutsche
Firma spätestens nach fünf Jahren wieder vom Markt.
Dabei brauche Deutschland innovative Gründer, sagt
Kritikos. Jetzt gehe es um neue Ideen in den höherwertigen
Technologien, darauf müsse sich Deutschland spezialisieren.
Er nennt Pharmafirmen und Maschinen- und Autohersteller.
Nur mit ihnen könne der Wirtschaftsstandort erhalten
werden. Der Trend gehe wieder zur eigenen Firma, ist
Kritikos sich sicher. Nicht nur aus der Not heraus. Sondern
auch, weil die Arbeitswelt sich geändert habe.
Niemand werde mehr in dem Unternehmen alt, in dem
er ausgebildet wurde. Den sicheren Arbeitsplatz gibt es
nicht mehr. Damit verliere die bisherige Vorstellung vom
Scheitern ihren Schrecken und ihr Stigma. Und: „Damit
sinkt dann das relative Risiko des Unternehmertums“, sagt
Kritikos. Es werde attraktiver.
In einer Schülerumfrage für die Bertelsmann-Stiftung
sagten schon 2007 drei Viertel der befragten Jugendlichen,
dass sie prinzipiell bereit seien, sich später selbstständig zu
machen.
Wenn alles klappt, wie er es sich vorstellt, wird deshalb
auch der Berufsschüler Philipp Müller später Flyer, Plakate
und CD-Cover in der eigenen Firma gestalten. Er wird Unternehmer
sein. Er sagt: „Aber kein typischer.““

erschienen 2010 im Handelsblatt