Der Lettermann. Über den Schreibmaschinenmechaniker von Günter Grass, Erich Kästner, Uwe Johnson und Wolfdietrich Schnurre
Er mag Wörter. Er spricht nur nicht so gern. Und eigentlich hört er auch nicht so gern zu. Aber er mag Buchstaben, die sich gleichmäßig aneinanderreihen, schwarz auf weißem Papier. Dafür ist er zuständig, das ist seine Aufgabe, seit 60 Jahren. Dietrich Tietz ist Schreibmaschinenmechaniker,
einer der letzten. Noch steht er jeden Tag in seinem Laden in Berlin-Friedenau.
In seinem Schaufenster stehen 14 Maschinen, dazwischen Blumentöpfe mit dunkelgrünem Mini-Efeu. Ein vergilbtes Werbeplakat verspricht trotzig: „Die Zukunft jetzt“, aber die Zukunft der Schreibmaschinen ist längst vorbei. Man sieht es Tietz’ Geräten auch ein wenig an. Über manche hat der Staub einen Grauschleier gelegt. An den meisten lehnen Schilder: „Gelegenheit 49 Euro“. Tietz handelt
nur noch mit gebrauchter Ware. Er ist ein Übriggebliebener, aber nicht irgendeiner. Bei ihm haben die Schriftsteller Günter Grass, Erich Kästner, Uwe Johnson und Wolfdietrich Schnurre ihre Maschinen und Farbbänder gekauft. Er hat ihre Geräte repariert. Und so wird auch von Dietrich
Tietz etwas übrig bleiben.
Die Gegenwart gehört den Computern. Auf der Cebit, der jährlich in Hannover stattfindenden, weltgrößten Computermesse, stellen ab Dienstag mehr als 5500 Unternehmen ihre Produkte aus. Acht Millionen Rechner haben allein die Deutschen im vergangenen Jahr gekauft, sagen Marktforscher.
Um den Schreibmaschinenhandel kümmern sie sich nicht mehr. Es gibt nur noch drei Firmen, die nicht viel mehr als 44000 Maschinen jedes Jahr auf den deutschen Markt bringen: Brother, Twen und Olympia. „Wir sterben aus“, sagt Tietz.
Tietz, 73 Jahre alt, die Haare immer sorgfältig nach hinten gekämmt, steht in seinem Laden wie ein großer, grauer Stein – stumm und unbeweglich. Als hätte ihn jemand zwischen die Schreibmaschinenregale gestellt, und nun gelingt es niemandem mehr, ihn wieder wegzuschieben.

Dietrich Tietz verändert seine Position auch nicht, als die Türglocke Kunden ankündigt – ein Ehepaar in seinem Alter. Sie stolpern fast über die Schreibmaschinenkoffer, die sich auf dem dunklen Linoleumboden stapeln. Es ist eng. Eine braune Pappwand trennt das Geschäft von der Werkstatt. Tietz hat die Wand mitten in den beige gestrichenen Raum gestellt, so dass der Laden kaum breiter ist als ein Wohnungsflur. 32 Geräte stehen in den beiden mannshohen Holzregalen links und rechts. Die vollkommen schwarze
„War Finished“ – „Krieg beendet“ – fällt auf. Das Modell von 1918 erinnert an ein gefräßiges Rieseninsekt. Aus seinem Eisenkörper ragt ein Gewirr aus heuschreckenbeindünnen Hebeln.

Das Paar hat eine Schreibmaschine mitgebracht, eine elektrische Olympia mit Korrekturtaste. Die Maschine schreibt nicht mehr. Die Frau ist versucht, Tietz mehr zu erzählen. Aber der streckt wortlos seine Arme nach dem Apparat aus, stellt ihn auf einen kleinen Holztisch. Und das Ehepaar versteht. Es wird schweigend auf das Urteil des Meisters warten.

Seinem Gesicht ist noch nichts abzulesen. Die beiden steilen Falten neben seinen Mundwinkeln hängen
unbeteiligt herunter. Aber plötzlich zieht er die Brauen zusammen. Sie haben ein Problem, liebe Kunden, soll das wohl heißen. Er beugt sich über das Gerät. Ganz langsam, als würde er darauf bestehen, dass in seinem Laden die Zeit anders zu vergehen hat als draußen.

Dass die Schreibmaschine eine Zukunft hatte, ist jetzt 200 Jahre her. 1808 soll der Italiener Pellegrino Turri di Castelnuovo die allererste gebaut haben – als Einzelexemplar für eine blinde Gräfin. Tatsächlich beginnt die Geschichte der Schreibmaschine als Hilfsmittel für Behinderte. Die ertastbaren Buchstaben sollten die Augen beim Schreiben überflüssig machen.

Ein halbes Jahrhundert später hatte sich Friedrich Nietzsche auch eine gekauft – angeblich wegen seiner starken Kurzsichtigkeit. Das Ding aus Messing sieht aus wie ein Igel auf zu langen Beinen, der Buchstabentasten auf seine Stacheln gespießt hat. Allerdings ging die sogenannte Schreibkugel ständig kaputt: „Diese Maschine ist delicat wie ein kleiner Hund und macht viel Noth – und einige Unterhaltung“, tippte Nietzsche nach dem ersten Monat. Die Kugel steht jetzt bei der Klassik-Stiftung in Weimar.

Ähnlichkeit mit den heutigen Schreibmaschinen hatte dann erst 1874 ein „Typewriter“ aus der US-amerikanischen Waffenfabrik Remington. Firmen für Schreibmaschinen existierten damals noch nicht. Sie wurden in Rüstungsunternehmen, Nähmaschinen- und Fahrradwerken hergestellt
– wie die deutschen Geräte von Adler und Triumph, die beiden Firmen fusionierten später unter dem Namen Triumph-Adler. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte das Unternehmen zehn Werke mit 8000 Mitarbeitern, vier der Produktionsstätten hatten ihren Sitz in Deutschland. Triumph-Adler verkaufte mehr als eine halbe Million Schreibmaschinen pro Jahr.

Tietz’ Kunden sind alt geworden. Mit der Maschine schreiben nur noch die Generation 70 plus und die Mafia: Vor einem Jahr berichteten die italienischen Zeitungen groß über den berüchtigten Mafiaboss Bernardo Provenzano, der 43 Jahre mit seiner Schreibmaschine untergetaucht war. Denn Telefon, Handy oder E-Mail hätten unnötig viele Spuren hinterlassen. Der Mafioso tippte seine Mordaufträge
stattdessen auf einer Olivetti, Typ Lettera 32. Das „O“ im Wort „Morte“ soll jedes Mal ein Loch ins Papier geschlagen haben. Auch Provenzano ist mit 75 nicht mehr der Jüngste.

Tietz will in seinem Laden ausharren, bis gar keine Kunden mehr kommen. Jeden Tag vier Stunden – von neun bis elf und von 16 bis 18 Uhr. „Noch läuft es geradeso“, sagt er. An richtig guten Tagen verkauft Tietz eine oder zwei seiner Maschinen. Oft nicht einmal ein Farbband. Aber Geld braucht er nicht mehr. Seine Rente reicht – für die Wohnung um die Ecke, in der er allein lebt, den Laubenpiepergarten und den VW Käfer, Baujahr 1983.
Bevor Computer in den 90er Jahren klein und billig genug wurden, um sie in Büros und Wohnungen zu stellen, hatte Tietz’ Geschäft durchgehend geöffnet. Damals verkaufte er neue Maschinen – manchmal fünf, sechs am Tag. Und hin und wieder stand eben ein Künstler in dem Laden, der nach seinem Gründer Otto „Breitkreutz“ heißt. Der hatte ihn 1938 mit seiner Frau Emmy eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die beiden zeitweise 15 Mitarbeiter, die in den Ruinen Berlins nach verschütteten  Schreibmaschinen suchten. Repariert und geputzt standen sie dann bei Breitkreutz wieder im Laden.

Als Dietrich Tietz bei den beiden anfing, war die Stadt wieder größtenteils aufgebaut und die eisernen Geräte hatten Plastikgehäusebekommen. Friedenau war in den 50er und 60er Jahren ein Viertel
der Künstler, der schreibenden vor allem. Das war gut fürs Geschäft. Den kürzesten Weg hatte Elfriede Mechnig, Erich Kästners Sekretärin, die die handgeschriebenen Werke ihres Chefs abtippte. Sie musste von ihrer Wohnung in der Niedstraße 5 nur die vierspurige Rheinstraße überqueren.
Auch Grass wohnte keine sieben Gehminuten entfernt. Direkt neben Uwe Johnson, dessen Buch „Mutmassungen über Jakob“ zeitgleich mit Grass’ „Die Blechtrommel“ in die Buchläden kam.

Es ist ja nicht so, dass Günter Grass seine „Blechtrommel“ ohne Dietrich Tietz nicht geschrieben hätte. Tietz leidet nicht an Größenwahn. Er ist nur überzeugt davon, dass der Schriftsteller es auf
einer Maschine aus seinem Laden getan hat – einer blauen Olivetti, Typ 22, einer italienischen Reiseschreibmaschine.

Nein, gesprochen habe er nicht mit den Schriftstellern, das gehöre nicht zu seinen Aufgaben. „Für die Kunden bin ich der Maschinenmann.“ Die Rolle gefällt ihm. In seinem Laden hat Tietz inzwischen das cremefarbene Plastikgehäuse der Olympia des Ehepaars ausgehakt, es liegt jetzt neben ihr auf dem Tisch. Er kann nun alles sehen: die Papierträgerwalze, das schwarzrote Farbband davor, den Schrittmotor, das Typenrad – eingekreist von Buchstaben. Er klickt es aus, ein, wieder aus. Er dreht es vor seinen
zusammengekniffenen Augen hin und her. „Da haben Sie doch selbst dran rumgebastelt!“ – es ist der erste Satz aus der Stille.
Die Frau gesteht. Sie habe das Typenrad nur wechseln wollen. Ihr Mann unterbricht sie: „Lass doch, er ist der Fachmann!“ Als 14-Jähriger hat Tietz seine Lehre zum Schreibmaschinenmechaniker in der Berliner Olympia-Generalvertretung begonnen, 1948. Die Berufswahl sei purer Zufall gewesen, sagt Tietz. Sein Vater, ein Buchhalter, habe im selben Gebäude gearbeitet. So habe er von der freien Stelle erfahren.
Und nun mag Tietz sich ein Leben ohne Schreibmaschinen nicht mehr vorstellen.

Tietz, der Übriggebliebene, hat die Gründe gesammelt, die gegen Computer sprechen: „Wer so einen bedienen will, muss einen dreiwöchigen Kurs besuchen.“ Außerdem hört man ja so viel über die ganzen
Abstürze. Und erst die Computerkriminalität! Punktsiege für die Schreibmaschine. Dass das etwas ändert, glaubt er nicht. Aber er muss lächeln. Ganz kurz zucken die beiden Falten an seinem Mund. Seine breiten Zeigefinger klopfen jetzt auf die Tasten der Olympia. Er hat ein neues Typenrad in die Maschine
gesteckt. Eigentlich müssten jetzt die Buchstaben auf dem Blatt auftauchen, nach rechts rennen, bis zum Ende der Zeile. Aber nichts passiert. Tietz richtet seinen Oberkörper auf. „Da ist wohl der Motor kaputt“, sagt er und verschwindet in der Werkstatt. Das Paar schaut sich an und wartet weiter.

Der Zutritt zur Werkstatt ist verboten. „Zu rumpelig“, sagt Tietz später. Er schraubt die Maschinen dort auseinander, zerlegt sie. Er bürstet jede Metallletter einzeln. Später sollen sich die Typen bei jedem Anschlag sauber und akkurat ins Papier drücken. Das Farbband darf nicht schmieren. Aber die Tinte gibt den Buchstaben immer feine Schatten, sie scheinen Körper zu haben. Das ist jedes Mal ein  Erfolgserlebnis, sagt Tietz. Es ist der Grund, warum er noch arbeitet. „Andere fühlen sich als kleines Rädchen im großen Getriebe, ich nicht.“ Er allein ist dafür verantwortlich, wenn eine alte Maschine wieder funktioniert. Er gibt ihr wieder einen Sinn. Und dem Leben des Maschinenmanns.

Manche Kunden machen es ihm aber auch schwer. „Einige bringen ihre Maschine erst nach 20 Jahren vorbei“, sagt Tietz. Dann ist das winzige Loch im kleinen „e“ oft so zugedreckt, dass Bürsten nicht mehr hilft. „Das muss ich dann mit der Stopfnadel rauspolken.“ Schlimmer ist es, wenn die Kunden zu viel reden. „Manche erzählen einem ihren ganzen Lebenslauf, die finden gar kein Ende“, sagt Tietz.

Lieblingskunden? Es fallen ihm keine ein. An Grass erinnert er sich überhaupt nur wegen der „kleenen blauen Olivetti“. Eine wirklich schöne Maschine. Die von Tietz ist auch blau – „taubenblau mit viel Chrom“. „Gabriele 35“ heißt sie, ein Modell von Triumph-Adler aus den 70er Jahren. Er würde sie nie hergeben. Sie war damals die teuerste auf dem Markt. 485 Deutsche Mark hat er für sie gezahlt.
Aber sie war auch die schönste.

Triumph-Adler hat seine letzten Schreibmaschinenfabriken in Tschechien und Indien vor drei Jahren verkauft. 42 Mitarbeiter produzieren dort für den neuen Besitzer noch rund 20.000 Maschinen für Deutschland. Die tschechischindischen Modelle heißen nicht mehr, wie Schreibmaschinen deutscher Hersteller lange hießen, „Gabriele“ von Triumph-Adler, „Monika“ von Olympia, oder „Erika“, die
Geräte der DDR-Firma Robotron. Sie heißen „Twen T320“ oder „Twen T180“. Die Twen-Chefin gibt den Schreibmaschinen keine fünf Jahre mehr. Auch ihr Unternehmen werde die Produktion früher oder später einstellen, erklärt sie am Telefon. Die Einzelteile dafür würden immer knapper.

Tietz nutzt seine „Gabriele“ selten, höchstens für schnöde Briefe an Behörden. Die Bücher, die auf seinen Maschinen entstanden sind, hat er nie aufgeschlagen. Dabei hat Grass seiner „mechanischen
Muse“ im letzten Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Auch Kurt Tucholsky hat einmal über Schreibmaschinen gedichtet: „Hebel rauscht und Glöckchen klingt, und die Schreibmaschine singt.“ Der Amerikaner Paul Auster hat vor ein paar Jahren sogar ein ganzes Buch über seine mechanische Olympia geschrieben. „Heldin“ hat er sie genannt. Tietz würde nie auf so eine Idee kommen. „Maschine
ist Maschine, Mensch ist Mensch.“

Er bevorzugt Sachbücher. Tietz mag Wörter, die sein Wissen vergrößern. Vor 20 Jahren hat er sich „Die Schreibmaschine“ gekauft, ein Lehrbuch von Otto Burghagen, einem der ersten Lehrer für Maschineschreiben. Erschienen ist es 1898. Ein Jahr nachdem die preußische Regierung Maschinenbriefe
an Behörden zugelassen hatte. Burghagen empfahl die neuen Geräte auch Journalisten und  Schriftstellern. Der Vorteil: Für einen Buchstaben genüge ein Tastendruck, mit der Feder müsse man dagegen durchschnittlich fünf Striche ziehen.
Der erste Roman, der 1874 auf einer Maschine abgetippt wurde, stammt von Mark Twain. „Tom Sawyers Abenteuer“, Twain diktierte allerdings nur, seine Sekretärin schrieb. Twains Finger kamen seinen Gedanken nicht hinterher. Offenbar war ihm die Maschine auch etwas peinlich. Twain verbot dem Hersteller sogar, mit seinem Namen dafür zu werben. Die neue Erfindung war bei Männern verpönt.
Amerikaner konnten sich im 19. Jahrhundert darum zu ihrer Schreibmaschine auch gleich ein Tippmädchen mieten, inklusive Büro-Putzen und Spucknapf-Leeren.

Aber Autoren schicken heute nur noch Computerfassungen an ihre Verlage. Die Maschinenschreiber unter ihnen sind schnell an den Fingern abgezählt. Selbst Grass lässt seine Werke nach der letzten Maschinenfassung in den Computer tippen, bevor er sie an den Verlag schickt. Der 80-Jährige hat mittlerweile drei Schreibmaschinen, denn kein Computer sei „verführerisch genug“, um auch nur eine
seiner Olivettis verdrängen zu können. Aber Grass kauft jetzt woanders. Er wohnt schon lange nicht mehr in Berlin. Kästner und Johnson sind tot. Und Schnurre, der Tietz einmal einen Schnaps spendiert hat, nachdem der seine Olympia repariert hatte, ist auch längst weg. Er ist in den Norden gezogen, nach Kiel. „Da hatte er dann wohl so große Langeweile, dass er bald gestorben ist“, sagt Tietz.

Das Ehepaar hat seinen Laden bereits verlassen –mit einer neuen alten Schreibmaschine, eine Gelegenheit für 49 Euro. Die Reparatur hätte sich nicht mehr gelohnt. Gute Kunden an einem guten Tag. „Empfehlen sie mich weiter!“, hat Tietz ihnen nachgerufen.“